GRAFOLOGIE IST WUDU
aber es gibt ein Heilmittel dagegen.


Ernstgemeinte Abhandlung zur Bedeutung der Grafologie in der heutigen Personalarbeit, die mich meinen Job kosten wird
.


WUDU ist ein Zauber, bei dem man Püppchen mit Nadeln sticht und ein anderer schreit dann. Der Zauberer und seine Anhänger sind überzeugt, dass der Stich ins Püppchen den echten Menschen sticht, wie der Hafer das Pferd. Der Zauberer ist ein Guru, nur er weiss, wie's wirklich funktioniert. Die andern sind alle doof und unterwerfen sich der Aura des Zauberers...


Das Beste ist: Wenn's nicht funktioniert, dann ist das kein Beweis gegen Wudu, sondern gegen den Zauberer - der ist halt ein Flasche und muss noch üben. Damit kann niemand was dagegen einwenden, die Theorie stimmt, nur mit der Anwendung hapert's manchmal.


So ähnlich ist's in der Grafologie:



Viele Personal-Menschen glauben, dass ein Grafo-Zauberer allein anhand einer Schrift jemanden besser durchschauen kann, als der Personal-Mensch selbst das nach mehreren Vorstellungsgesprächen hinkriegt. Das ist schon zaubererhaft. Der stechende Blick des Schamanen in die Schrift ist besser als der eigene Blick auf den Menschen selbst. Die Unterwerfung ansonsten kompetenter Personal-Menschen unter die Autorität des Zauberers zeugt von erstaunlich geringer Selbstsicherheit und erinnert an Scientology oder sowas.

Und wenn sich zwei Grafos diametral widersprechen, dann ist die Erklärung wie beim Wudu sofort parat: Einer der Zauberer ist ein unfähiger Scharlatan, kein Grund, an der Sache selbst zu zweifeln.

Jeder erfolgreiche Grafo-Zauberer hat ein paar zahlungskräftige Gläubige, die erklären mit verklärtem Blick: "Keine Ahnung, wie der das macht, aber der hat sich noch nie geirrt. Es ist ganz erstaunlich!" Nein, ernsthaft: Das geht da ab wie in einer Sekte.

Vor allem in der Schweiz ist dieser Aberglauben weitverbreitet. 65% der Personal-Menschen setzen's ein. Ich setz' mich hier also brutal in die Nesseln. In Grossbritannien und Deutschland sind's gerade noch sechs Prozent, die Amerikaner glauben überhaupt nicht dran (dafür an allen möglichen anderen Blödsinn, z.B. dass Cowboys das Zeug zum Präsidenten haben.


Es gibt nicht wegzudiskutierende Gründe und wissenschaftliche Untersuchungen, die beweisen, dass Grafologie nichts taugt und nicht mehr bringt als Würfelspielen, Kaffeesatzlesen oder Hühnerknochen bei Vollmond über die rechte Schulter werfen (Funktioniert ganz gut, müssen Sie 'mal ausprobieren, aber ja nicht über die linke Schulter!).

Wer sich auch nur ein bisschen klar macht, wie kompliziert ein Mensch ist und von wieviel Faktoren eine erfolgreiche Stellenbesetzung abhängt (Chef, Team, Kunden, Erfolg, Aufgaben usw. usw.), der darf sich nicht auf Schriftdeutung verlassen.

Schon bei der Zaubererauswahl stirbt die Sache: Denn von hundert Grafologen sind nur zehn wirklich "gut"..., sagen alle Grafologen. Und bis der Personal-Mensch herausgefunden hat, wer der wirkliche Guru ist, hat er schon neun von zehn mal Mal danebengeschossen. Toll!


Weil man das ja eigentlich weiss, wird die Bedeutung der Grafo-Zaubers von den Gläubigen selbst oft heruntergespielt: "Das Grafo ist doch nur ein kleines Mosaiksteinchen im ganzen Verfahren", heisst's stereotyp. In der Praxis sieht's allerdings oft anders aus: Ich habe es x-mal erlebt, dass BewerberInnen an einem einzigen, aus dem Zusammenhang gerissenen Wudusatz, der im Gehirn des Personal-Menschen eingeschlagen hat und hängengeblieben ist, gescheitert sind - von wegen Mosaiksteinchen. Aber keine Angst, es gibt ein Heilmittel dagegen...


Wie läuft das Verfahren ab?



Meistens sieht das so aus: Nach dem zweiten oder sogar dritten Vorstellungsgespräch sind Sie in der engsten Wahl und die Personal-Menschen wissen nicht so recht. Sie brauchen noch ein "Experten"-Urteil. Günstig ist ein Grafo (150.- bis 450.- sfr). Also machen wir doch eins. Sie werden angefragt, und müssen angefragt werden, für ein Gutachten (wieso heisst das bloss "Gut"-achten?) eine Handschriftprobe einzureichen und der/die GrafologIn schreibt innert zwei, drei Tagen das Machwerk. Es wird je nach Gläubigkeitsgrad eifrig gelesen und verinnerlicht, denn jetzt haben wir es ja schwarz auf weiss direkt vom Erleuchteten. Sie selbst haben meistens keinen Einblick, können ihn aber verlangen und nur zum Preis von Unanständigkeit verweigert bekommen. Rechtlich haben Sie keine Handhabe. Und hoffentlich auch keine Zeit für sowas.

Und dann wird entschieden. Das Grafo wandert, wenn Sie eingestellt werden, in Ihre Personalakte und wird zu Ihrem stillen Begleiter. Oder es wird offiziell vernichtet, wenn Sie nicht eingestellt werden. Wahrscheinlicher ist, dass es in einem Archiv von abgelehnten BewerberInnen-Dossiers landet und dort vermodert.

Äusserst selten wird Grafologie schon vor einem ersten Gespräch eingesetzt. Davor haben die meisten ja Angst. Aber stellen Sie sich nur vor, was das kosten würde. Rechtlich ist das sehr bedenklich, denn ohne Ihre Einwilligung geht das nicht. Ich kenne solche Fälle nur vom Hörensagen.

Am bedenklichsten ist der Aberglaube selbst, der halbprofessionelle Personalmenschen dazu verleitet, jedes Handschriftchen schon 'mal mit dem aufgesetzten, finsteren Grafo-Zauberer-Blick zu prüfen und irgendwelche Schlüsse hineinzudeuteln. Schlimm. Dagegen können Sie überhaupt nichts machen, nur den Kopf schütteln und grinsen. Ich kenne sogar eine Personalmenschin, die zählt das Geburtsdatum quer zusammen und errechnet eine magische Zahl. Ehrlich! Was soll man da sagen...


Datenschutz? Kontrollierbarkeit?


Vergessen Sie das am besten. Wer mit Personal-Daten Schindluder treibt, hat's nicht verdient, dass Sie Ihre wertvolle Zeit und Ihr Geld für die hehre Gerechtigkeit opfern. Und ganz nebenbei: Von schweren Schadenfällen wegen Grafologie oder so habe ich noch nie etwas gehört, und ich mach' das Geschäft schon zwölf Jahre. Also bitte keine Mücken-Elefant-Spielchen.

Heute wird von uns allen soviel Datenmaterial gesammelt, dass es auf ein Grafo mehr oder weniger nicht ankommt.


Das wirkliche wahre Gegenmittel!!!


Und jetzt kommt's. Es gibt ein wirkliches Wundermittel gegen den Irrglauben. Haben Sie also absolut keine Angst vor Grafologie, denn Sie allein sind der wirkliche Wudu-Zauberer in diesem Spiel, Sie allein haben die Macht. Denn nur Sie bestimmen darüber, was im Grafo geschrieben steht bzw. gelesen wird. "Wieso denn das nun plötzlich," werden Sie fragen?

Ganz einfach: Grafos sind immer so vieldeutig geschrieben, dass der Personal-Mensch so ziemlich alles hineinlesen kann, was er lesen will. Falls Sie das an Horrorskope erinnert, kein purer Zufall! Wenn er unsicher ist wegen irgendwas, wird er einen Hinweis finden, der ihn noch unsicherer macht. Wenn er sicher ist, wird er alles Verunsichernde überlesen. Todsicher. Deshalb, und nur deshalb, funktioniert das Ganze. Also hängt auch alles davon ab, welchen Eindruck Sie machen. Das einfache Rezept: Machen Sie einen möglichst guten Eindruck, dann wird auch Ihr Grafo gut ausfallen. Wirklich, so ist es!

Deshalb jetzt die einzig richtige Moral zum Thema Grafologie:

  1. Grafologie gehört vor allem in der Schweiz zur Personalarbeit, ist aber gleichzeitig "nur Mosaiksteinchen im Ganzen" (tralala).
  2. Tun dagegen können Sie so wenig wie gegen das Blau des Himmels und die Nässe des Wassers. Nehmen Sie's also als Teil unseres allen gemeinsamen Schicksals.
  3. Grafos bedürfen rechtlich Ihrer Zustimmung, sonst können Sie Ärger machen, sprich: klagen.
  4. Machen Sie aber keinen Ärger, denn es lohnt sich nicht.
  5. Zeigen Sie durch eine hervorragende Vorstellungsrunde, was Sie auf dem Kasten haben, und bestimmen Sie damit, was in Ihr grafologisches Gutachten hineingelesen wird. Sie haben's in der Hand.


Ach ja: Alternativen gäb's genug...



Personal-Menschen sollten Wudu nicht einsetzen (oder wie hiess das nochmal?). Es gibt sehr viel bessere Methoden, vor allem gute, wissenschaftlich erprobte Eignungstests. Die sind erwiesenermassen aussagekräftiger und nicht viel teurer. Oder dann Assessments, ziemlich aufwendige Prüfverfahren, die sich nur lohnen, wenn's um sehr viel geht.

Die allerbeste Methode ist allerdings: Eigene Kompetenz und ständiges Lernen der Personal-Menschen selbst, bessere Interviews mit mehr Beteiligten und persönliche Referenzauskünfte.

Und was wäre mit Vertrauen in neue MitarbeiterInnen! Wär' doch auch nicht schlecht.

Oder mit Risikobereitschaft. Denn Flops lassen sich mit allen Verfahren nicht vermeiden, ich würde behaupten, nicht einmal vermindern. Schauen Sie doch einfach 'mal um sich...


War das alles zu böse und hart? Dann noch folgendes: Natürlich gibt's einen Zusammenhang zwischen Schrift und Mensch, aber den gibt's auch zwischen seiner Kleidung und ihm und seiner Physiognomie, seinem Finger- und seinem Fussabdruck, seinen Lebenslinien, seinem Blick und seiner Frisur. Ein Mensch ist eben ein riesiges, facettenreiches Gebilde. Die Zusammenhänge sind nicht eindeutig und klar, sie sind eben sehr vieldeutig und nicht 1 zu 1 übersetzbar. Das Schriftbild macht einen Teileindruck, darf aber nicht pseudowissenschaftlich mit einem "objektiven" Massstab für den Menschen verwechselt werden. Ende.